Klimaneutrale Mobilität 2050: Glauben Sie das?

Bei kaum einem Thema klafft die Lücke zwischen diskutiertem Anspruch und erlebter Realität so stark auseinander wie bei E-Mobilitätszielen und tatsächlich zugelassenen Fahrzeugen in den letzten zehn Jahren. Und gefühlt wird die Lücke jeden Tag größer. Dabei glauben wir doch mehrheitlich an das ausgesprochene Ziel, Mobilität klimaneutral zu machen und toxische Emission gänzlich zu vermeiden. Wo also liegt das Problem? Fühlen wir uns zu wohl in unseren hochdynamischen Verbrennerfahrzeugen mit Beschleunigungswerten unter fünfeinhalb Sekunden? Sind wir in der Automobilindustrie (zu) satt und zufrieden geworden? Verpassen wir gerade den Anschluss an die schöne neue digitale Welt?

Transparent Car

Das Ziel ist so clever formuliert, dass jeder Mensch mit klarem Verstand es bejahen kann und muss: Mobilität soll für unseren Heimatplaneten Erde CO2- bzw. klimaneutral sein und keinerlei toxische Emission erzeugen. Mit der Jahreszahl 2050 ist aber ein Zeitpunkt gewählt, den keiner wirklich vorhersagen oder -sehen kann und wo reines Raten offensichtlich keinen Mehrwert liefert.

Bruno Jonas, Kabarettist aus meiner bayerischen Wahlheimat, weiß: „Da, wo viel geglaubt wird, wird wenig verstanden, (und) wo wenig verstanden wird, muss viel geglaubt werden. Aber ich merke, schon, Sie glauben es nicht. Dann werden Sie es verstehen müssen: So ist die Religion entstanden.“ (Bruno Jonas: Classix – Glaube)

Woran glauben wir – in der Automobilindustrie – eigentlich?

An E-Mobilität als universellen Antrieb der Zukunft für alle Fahrzeuge? Was ist mit dem CO2-Footprint der (Batterie-)Produktion und dem Energieaufwand für Recycling? Was ist mit Lkw und Bussen? Mit Schiffen? Mit Flugzeugen? Der Elektroantrieb wird vor allem in Politik und Medien diskutiert als der bessere und technisch weniger komplizierte Ersatz für den Verbrennungsmotor in unseren heutigen Universalautos. Leider deutet wenig darauf hin, dass der Wandel in unserer Mobilität so trivial und monokausal ist. Lassen Sie uns daher rekapitulieren, was wir bisher verstehen und wissen, um daraus unsere Erkenntnisse abzuleiten.

Perspektive: nachhaltige Gesellschaft und Mobilität

Das Ziel die ökologisch verträgliche Mobilität weltweit bis 2050 zu erreichen, ist dringlich und von übergeordneter Bedeutung für uns alle. Mit Elektrofahrzeugen, die in Deutschland fahren, ist das Problem nicht adressierbar – es bedarf einer globalen Lösung.

Hinter der Forderung nach globaler Elektromobilität liegt die Annahme, dass lokal emissionsfreier Autoverkehr besser ist, als CO2 und Schadstoff emittierender Verkehr. Aus gesellschaftlicher Sicht betrachtet ist dies richtig: Unter den „Global 50 Worst Air Polluted
Cities“ liegen 25 in Indien, 22 in China, zwei in Pakistan und eine in Bangladesch. Selbst als versierter Asien-Reisender werden Sie sich schwertun, mehr als Delhi (#11) mit Namen nennen zu können (www.airvisual.com).

In Europa ist Frankfurt an der Oder die erste deutsche Nennung: auf Platz 164. In Nordamerika liegen zehn der „Worst 15 Cities“ in Mexiko; Los Angeles erscheint „erst“ an Platz 42 der Städte mit der größten Luftverschmutzung in Nordamerika. Ist die Forderung nach freiwilliger Einschränkung von Verkehr und individueller Mobilität nicht genau das Gegenteil von einer menschengerechten und fairen Lösung für uns alle? Gerade die Menschen in den sich stark verändernden BRIC-Regionen sehnen sich danach, die Freiheit der individuellen Mobilität und die Freiheit der Informationstransparenz (erstmals) so nutzen zu dürfen, wie wir es in Nordamerika und Europa seit einigen Dekaden tun.

Erkenntnis: Das Ziel die ökologisch verträgliche Mobilität weltweit bis 2050 zu erreichen, ist dringlich und von übergeordneter Bedeutung für uns alle. Mit Elektrofahrzeugen, die in Deutschland fahren, ist das Problem nicht adressierbar – es bedarf einer globalen Lösung. Und es ist offensichtlich, dass eine emissionsfreie Fahrzeugtechnik allein nicht die ökologische Nachhaltigkeit sicherstellen kann: CO2- und schadstofffreie Energieerzeugung sowie der Aufbau von Ladeinfrastruktur sind untrennbar verwoben mit dem Umstieg auf Elektro für den Fahrzeugantrieb.

Perspektive: industrielle Wertschöpfung

Lösungskonzepte, welche die bisherige Wertschöpfung lebenszyklusgerecht erhalten (wie zum Beispiel CO2-neutrale E-Fuels), sind radikalen Umstiegsszenarien deutlich überlegen bezüglich Kosten, Umsetzungsdauer und technologischer Risiken.

In unseren Fahrzeugen und in unserer Infrastruktur steckt ein hohes Maß an industrieller Wertschöpfung. Wenn wir Technologien (zum Beispiel Elektroantriebe) gezielt fördern oder gar politisch erzwingen, entwertet diese Entscheidung die bisherigen Technologien
(zum Beispiel Benzin-, Diesel- und Gasantriebe sowie die dazugehörigen Entwicklungs-, Produktions- und Wartungsressourcen). Das heißt, eine solche Entscheidung vernichtet teuer erarbeitete Wertschöpfung. Der hieraus resultierende volkswirtschaftliche Schaden kann eventuell vertretbar sein; die Erfahrung zeigt jedoch, dass private Fahrzeugbesitzer diese erzwungene Entwertung unabhängig vom objektiven Einkommensniveau nicht ohne massiven Widerstand hinnehmen. Erkenntnis: Lösungskonzepte, welche die bisherige Wertschöpfung lebenszyklusgerecht erhalten (wie zum Beispiel CO2-neutrale E-Fuels), sind radikalen Umstiegsszenarien deutlich überlegen bezüglich Kosten, Umsetzungsdauer und technologischer Risiken.

Perspektive Kundennutzen:

Batterieelektrische Universalfahrzeuge (BEV) oder Plug-in-Hybride (PHEV) haben für private Halter heute lediglich einen indirekten Mehrwert, nämlich die lokale Emissionsfreiheit. Denn für Fahrer/Halter sind BEV-/PHEV-Fahrzeuge ceteris paribus teurer und mühsamer hinsichtlich Reiseplanung und Tanken. Am nachteiligsten wiegt jedoch, dass der Elektroantrieb in privat gekauften Universalautosin keiner Weise einen Beitrag zum Lösen des Verkehrsinfarkts sowie zur Verringerung des Zeitbedarfs bzw. der Kosten für Parken in den Metropolregionen leistet. BEV/PHEV erzeugen somit nur einen begrenzten übergreifenden Mehrwert, solange sie im klassisch automobilen Geschäftsmodell des Privatbesitzes verwendet werden.

Erkenntnis: Elektroantriebe entfalten ihren größten individuellen und gesellschaftlichen Nutzen, wenn sie neben privat besessenen Universalfahrzeugen auch in „High-ADAS-Shared-Urban-Mobility-Lösungen“ zum Einsatz kommen.

Denn die Mehrkosten von ADAS und Elektroantrieb werden im Shared-Betrieb auf eine Vielzahl von Nutzern pro Tag verteilt. Auch die Ladeinfrastruktur muss im Shared-Fall nicht flächendeckend, sondern flottensystematisch im Einklang mit den Kommunen etabliert werden. Auch die Ladeinfrastruktur muss nicht flächendeckend, sondern flottensystematisch im Einklang mit den Kommunen etabliert werden. Und die Risiken von Reichweite und Batterielebensdauer haben keine Relevanz für Mobility-as-a-Service-Nutzer.

Als Flottenfahrzeuge mit nicht abschaltbaren Fahrerassistenzsystemen (L2–L4) sind diese stressfrei in der Stadt auch für ungeübte Nutzer fahrbar. Gleichzeitig regeln die Assistenzsysteme extreme Fahrimpulse weg und bereiten damit den Weg für die Phlegmatisierung der Antriebe (Verbrauchssenkung als positiver Nebeneffekt). Die Praxis wird zeigen, ob die Kombination von ADAS und Phlegmatisierung des Antriebs darüber hinaus auch einen positiven Beitrag zur innerstädtischen Verkehrssicherheit liefert.

Parallel hierzu machen Elektrofahrzeuge und PHEV weiterhin auch im klassischen Automotive-Geschäftsmodell Sinn – als privat besessene Universalfahrzeuge und hier vornehmlich im gehobenen Preissegment. Da diese allerdings die oben beschriebenen Kosten- und Nutzungsnachteile dem Verbraucher anlasten, hängt es von staatlichen Förderungsanreizen ab, wie schnell die Marktdurchdringung erreicht werden kann.

Ob bis 2050 die Mehrzahl aller Fahrzeuge vollelektrisch angetrieben sein werden (optimistische Prognose) oder ob BEV/PHEV-Fahrzeuge weniger als ein Drittel des gesamten Fahrzeugbestandes ausmachen werden (pessimistische Perspektive), kann mit den vorliegenden Erkenntnissen nicht mit ausreichender Konfidenz abgeleitet werden. Bis sich diese Prognosegüte verbessert, bleibt die Zeitachse der Marktdurchdringung von Elektroantrieben somit wohl eine Glaubensfrage.

Perspektive: IoT-Ökosystem

Ein „Connected Car“ ist ein klassisches Fahrzeug, das durch ein Telematikmodul drahtlos Daten senden und empfangen kann. Ein
„Rolling Device im Internet of Things“ ist ein Fahrzeug, welches im Kern seiner Technologie- und Geschäftsmodellarchitektur die digitale Ökosystem-Denke trägt. Keines der heute auf der Straße befindlichen Fahrzeuge erfüllt diese Kriterien vollauf. Vor allem, weil
im Internet der Dinge der Fokus nicht auf dem Device, sondern auf der Plattform sowie dem Produktionsprozess für die sich hochfrequent anpassenden, kundenorientierten Services liegt.

Die hier zur Anwendung kommende cloudbasierte Analytik und künstliche Intelligenz ersetzen die bisher lokal im Fahrzeug integrierte Regelungstechnik des 20. Jahrhunderts. Das begehrenswerte und perfekt entwickelte Fahrzeug-Device bleibt allerdings auch im IoT essenziell – der Maßstab des digitalen Zeitalters aber ist das inszenierte und übergangslos orchestrierte Kundenerlebnis. Erkenntnis: Der Reifegrad von Fahrzeugtechnologien bezüglich Elektroantrieb und ADAS hat in den letzten zehn Jahren enorme Fortschritte gemacht. Die Reife unserer globalen Mobilitätsplattformen und Car-IoTSteuerungs- bzw. -Sicherungssysteme hinkt hier fundamental hinterher. Dies ist der Grund, warum für Menschen, die bereits seit langem Auto fahren, die massiven Technologieverbesserungen der letzten 15 Jahre nicht zu einer massiven Verbesserung ihres Mobilitätserlebnisses führten.

Perspektive: Infrastruktur

Die globale, flächendeckende Einführung von Infrastruktur benötigt auf Basis empirischer Erfahrungen länger als 40 Jahre. Die globale Verfügbarkeit von klimaneutral erzeugter Energie sowie eines universellen Schnellladenetzes vor 2060 zu erwarten, entbehrt in Summe aller Faktoren der Plausibilität. Umso mehr, als die für infrastrukturelle Maßnahmen benötigten Budgetierungs-, Planungs-und Freigabeprozesse in der Regel zehn bis fünfzehn Jahre Vorlauf vor Beginn der Umsetzung haben.

Ladesäule

Erkenntnis: Wir unterschätzen systematisch den empirisch belegten Zeitbedarf für langsame Lebenszyklen und infrastrukturelle Veränderungen. Marktdurchdringungsprognosen sollten wir nicht allein aus der Technologiereife im Pilotbetrieb ableiten, sondern hierfür auch volks- und politikwissenschaftlich fundiert Umsetzungszeiträume und -szenarien erarbeiten.

Perspektive: Lebenszyklusbetrachtung

Im Jahr 2018 wurden 100 Millionen Fahrzeuge erstmals registriert, mit einem durchschnittlichen Fahrzeugwert unter 24.000 Dollar.
In Summe befinden sich 947 Millionen Fahrzeuge auf den Straßen der Welt. Die durchschnittliche Einsatzzeit dieser Fahrzeuge beträgt weltweit aktuell mehr als 14 Jahre. Zum Vergleich: Im gleichen Zeitraum wurden global 1,55 Milliarden Smartdevices zu einem
Durchschnittspreis von ca. 285 Dollar verkauft. Seit dem ersten iPhone 2007 eroberten insgesamt 10,1 Milliarden Devices die Herzen ihrer Nutzer, weltweit. Im Durchschnitt werden diese Devices nach 30,2 Monaten entsorgt – mit steigender Tendenz. Erkenntnis: Die globale Pkw-Wertschöpfung übersteigt die Smartdevice-Wertschöpfung um den Faktor sechs im Jahr 2018 und um den Faktor elf in Bezug auf alle im Markt befindlichen Produkte.

Der Lebenszyklus eines Fahrzeugs ist mehr als fünfmal länger als der eines Smartdevices.

Der Lebenszyklus eines Fahrzeugs ist mehr als fünfmal länger als der eines Smartdevices. Unter der (wenig realistischen) Annahme, dass bereits 2020 perfekte BEV-/PHEV-Fahrzeuge und Mobilitätslösungen vorhanden wären, ist fraglich, wie lange ein „natürlicher“ Ersatz aller im Feld befindlicher Verbrennungsfahrzeuge unter Berücksichtigung der Lieferkettenanlaufkurven dauert. Selbst wenn Europa als Vorreiter eine hohe Fahrzeug-Substitutionsrate zugunsten des Elektroantriebs etabliert und China eine mittlere Rate wählt, verlangsamen die übrigen knapp 50 Prozent des Weltfahrzeugbestandes den Zeitpunkt der vollständigen globalen Elektromobilität auf einen Zeitpunkt vermutlich jenseits von 2060. Die für eine solche Parforce-Umstellung auf Elektromobilität notwendigen erheblichen Investitionen begrenzen unsere Möglichkeiten, andere gesellschaftlich relevanten Veränderungen voran zu treiben.

Eine Strategie, die auf die Pluralität der klimaneutralen Treibstoffe und Antriebe setzt, liefert eine höhere Umsetzungswahrscheinlichkeit bei niedrigerem Fehlschlagrisiko. Insbesondere, die mit nachhaltiger Energie aus Wasser und atmosphärischem CO2 synthetisierte Treibstoffe (CH4, Benzin, Diesel) versprechen eine global wirksamere Reduzierung von CO2, da sie über die existierende Tanklogistik und Infrastruktur auch in bereits existierenden Fahrzeugen ohne lokale Infrastruktur-Investitionen eingesetzt werden können.

Was bedeutet dies alles? Ich denke, dass eine allein auf Elektrofahrzeugen basierende Strategie zur nachhaltigen Mobilität 2050 nicht plausibel ist und damit ein gesellschaftliches, und darüber hinaus ein unnötiges, volkswirtschaftlich nicht akzeptables Risiko darstellt. Eine Strategie, die auf die Pluralität der klimaneutralen Treibstoffe und Antriebe setzt, liefert eine höhere Umsetzungswahrscheinlichkeit bei niedrigerem Fehlschlagrisiko. Insbesondere, die mit nachhaltiger Energie aus Wasser und atmosphärischem CO2 synthetisierte Treibstoffe (CH4, Benzin, Diesel) versprechen eine global wirksamere Reduzierung von CO2, da sie über die existierende Tanklogistik und Infrastruktur auch in bereits existierenden Fahrzeugen ohne lokale Infrastruktur-Investitionen eingesetzt werden können. Hinzu kommt, dass diese Treibstoffe ebenso für Schiffe, Flugzeuge und andere schwere Transportfahrzeuge einsetzbar sind. Parallel macht es Sinn, eine nachhaltige Energieerzeugung und Schnellladeinfrastruktur für „Shared Urban Green Mobility“ zu etablieren. Wasserstoff als Mobilitätstreibstoff könnte gegebenenfalls eine vielversprechende Nischenperspektive ab 2030 haben, um Schlüsselanwendungen in der Transportlogistik auf Hauptstrecken mithilfe von Spezialfahrzeugen zu versorgen. Das digitale Zeitalter lehrt uns, dass ein Sowohl-als-auch vermutlich erfolgversprechender ist als ein „entweder oder“. Die Pluralität der Energieversorgung mag uns heute komplex und mühsam erscheinen – nach mehr als 100 Jahren Benzin und Diesel; dennoch deutet vieles darauf hin, dass es ein plausibler, risikoarmer und erfolgreicher Weg ist.

Glauben Sie das?

Das müssen Sie gar nicht: Wichtig ist unsere Einigkeit beim Ziel „klimaneutrale Mobilität 2050“. Von diesem Ausgangspunkt aus kann jeder von uns in seiner Rolle und in seinem Unternehmen einen substanziellen Beitrag leisten. Im Zeitalter der Social-Media-getriebenen Meinungspluralität und -manipulation tun wir als Auto-Mobilitätsbranche gut daran, Fakt von Fiktion zu trennen: visionäre Autos zu bauen, reicht nicht mehr. Wir benötigen kundenorientierte Mobilitätslösungen, die gesellschaftlich vertretbar sind. Ich denke, es sind genügend Herausforderungen vorhanden, um uns alle voll beschäftigt zu halten. Nur an eines glaube ich mit Blick auf meine vier Kinder nicht: dass wir weitermachen können wie bisher – Erfolg braucht jetzt einen Spurwechsel.

Timm Kellermann, Geschäftsführer Consulting4drive GmbH