Autonomes Fahren – eine neue Herausforderung für vernetztes Arbeiten

Das Ziel, hoch automatisiert Fahren zu können, führt zu tiefgreifenden Veränderungen in der Automobilbranche. Das gilt nicht nur für die Automobiltechnik in Soft- und Hardware, sondern auch für das Projektmanagement während der Entwicklung. Im automotion-Interview berichten Timm Kellermann, Geschäftsführer von consulting4drive, dem Beratungsunternehmen der IAV-Gruppe, und Dr. Michael Gröschel, Projektleiter und Wirtschaftsmediator bei IAV, über ihre Projekterfahrungen und zeigen Optimierungspotenziale im Entwicklungsprozess auf.

 

Was unterscheidet consulting4drive von anderen Beratungsunternehmen?

Timm Kellermann: Unsere Stärke liegt im Zusammenspiel von Engineering und Beratung. Dabei können wir auf das umfassende Know-how der IAV-Gruppe mit mehr als 7.000 Mitarbeitern und 35 Jahren Branchenerfahrung zurückgreifen. In unseren Projektteams kombinieren wir Erfahrung, Methodenwissen, technischen Sachverstand sowie soziale und interkulturelle Kompetenz zu einem sehr breiten Kompetenzspektrum. Als neutrale dritte Partei können wir in Entwicklungsprojekten beispielsweise methodisch und inhaltlich an der Schnittstelle zwischen Projektpartnern in der Etablierung lösungsorientiertere Prozesse unterstützen. Das Ergebnis ist eine sehr hohe Bearbeitungseffizienz und damit ein schneller und nachhaltiger Erfolg für den Kunden. Speziell die Entwicklung von automatisierten Fahrsystem des Level 3 oder höher scheint eine neue Kategorie von Projektkomplexität darzustellen.

Warum ist das so?

Dr. Michael Gröschel: Die steigende Vernetzung der automatisierten Fahrfunktionen ist eine der Kernherausforderungen, mit denen wir aktuell konfrontiert sind. Branchenweit geht die Entwicklung von Assistenzsystemen in eine neue Phase. Bis dato wurden einzelne Produkte wie ein Spurhalte-Assistent oder ein ACC-System als Stand-alone-Funktion bilateral zwischen Hersteller und Zulieferer entwickelt. Heute sprechen wir über den Schritt von Level 2 hin zu Level 3, 4 und 5 der Automatisierung. In diesem Zuge wächst auch der Vernetzungsgrad im Fahrzeug und damit die Anzahl beteiligter Projektpartner sowie die Komplexität des entsprechenden Entwicklungs- und Absicherungsprozesses. Parallel nimmt der Zeitdruck immer mehr zu, es müssen also in immer kürzerer Zeit immer komplexere Aufgaben in zunehmend verteilten Projektteams gelöst werden.

Kellermann: In der Vergangenheit setzten sich die Projektteams für eine Entwicklungsaufgabe in der Regel aus wenigen Personen zusammen, die meist von einer Abteilung des Automobilherstellers geleitet und von einem nationalen Zulieferer umgesetzt wurden. Die Komplexität des automatisierten Fahrens erfordert heute hingegen die Zusammenarbeit sehr vieler Partner und Domänen, sodass die Personenstärke der Projektteams sprunghaft ansteigt. Das resultiert in einer erheblich höheren Anzahl involvierter Abteilungen innerhalb des Herstellers sowie beteiligter externer Zulieferunternehmen, von denen alle ihr Spezialwissen einbringen.

Die Teams werden also immer interdisziplinärer und größer, umfassen viele unterschiedliche und teilweise neue Kompetenzen, auch ohne Automotive-Hintergrund, die weltweit verteilt sind. Wir reden in aktuellen Projekten nicht selten von vielen hundert Mitarbeitern, die für sieben, acht Firmen an über zwanzig internationalen Standorten in verschiedenen Zeitzonen arbeiten. Dies potenziert speziell die Herausforderungen im Projektmanagement. Zunächst sahen die daraus resultierenden Probleme im Projekt wie mangelnde Erfahrung oder Disziplin in der Projektsteuerung aus. Erst als wir merkten, dass praktisch jedes ADEntwicklungsprojekt, das wir sehen konnten, in irgendeiner Form der Krise steckt, wurde klar: Wir stoßen hier an eine grundsätzliche Komplexitätsgrenze, die mit den bisherigen Werkzeugen und Vorgehensmodellen im Projekt nicht mehr zum gewohnten Erfolg geführt werden können.

Gröschel: Unsere Herausforderungen in der Projektbearbeitung ergeben sich dabei insbesondere durch unterschiedliche Kommunikations-, Umsetzungs- und Arbeitskulturen aufgrund regionaler Prägungen und branchenspezifischer Sichtweisen. Regionale Unterschiede erleben wir etwa bei der Projektumsetzung im Team. In Asien hat für den Zulieferer die gemeinsame Zielerreichung in einer auf ein tiefes Vertrauensverhältnis fußenden Zusammenarbeit höchste Priorität, während man sich in Europa vorrangig an vordefinierten Lastenheftanforderungen in einem starren Vertragsverhältnis orientiert. Branchenspezifische Diskrepanzen gibt es beispielsweise in der Umsetzung cloudbasierter Funktionen zwischen der Automobil- und der IT-Welt, welche sich durch eine wesentlich höhere Entwicklungsgeschwindigkeit auszeichnet. Letztere erfordert eine höhere Fehlertoleranz im Entwicklungsprozess, welche beispielsweise im Smartphone Bereich durch die Möglichkeit eines Software-Updates im späteren Betrieb ausgeglichen wird. Der Bereich des hochautomatisierten Fahrens hingegen zeichnet sich durch sicherheitskritische und zugleich hochinnovative Produkte aus, die eine enge Kopplung der Hard- und Softwareentwicklung bei Steuergeräten und Sensorik erfordern. Oftmals erleben wir, dass die Projektpartner zwar gleiche oder ganz ähnliche Begriffe nutzen, diese aber mit ganz anderen Inhalten füllen. Spannungen im Projektteam und Probleme bei der Projektumsetzung sind damit vorprogrammiert.

Warum treten die Probleme nun so deutlich zutage?

Kellermann: Meiner Meinung nach hat man den Schritt vom Level 2 zum Level 3 des automatisierten Fahrens erheblich unterschätzt. Während das Level 2 noch zur konventionellen Fahrerassistenz zählt, muss das Fahrzeug beim Level 3 für eine gewisse Zeit die Fahrzeugführung übernehmen. Damit müssen de facto viele Herausforderungen des vollautomatisierten Fahrens höherer Level bereits heute adressiert werden. In den letzten Jahren wurde von den Herstellern zudem viel Verantwortung hinsichtlich der Entwicklung wie auch der Absicherung von Fahrerassistenzfunktionen auf die Zulieferer übertragen. Durch den hohen Vernetzungsgrad automatisierter Fahrzeuge ist dieser Trend derzeit jedoch gerade umzukehren, da ein System selten ausschließlich von einem Zulieferer vollumfänglich bereitgestellt werden kann.

Gröschel: Damit einhergehend erfordern die aktuellen Projekte bei den Herstellern wesentlich höhere Aufwände zur Systementwicklung, Integration und Absicherung und es ergeben sich weit umfangreichere Anforderungen an die Kommunikation und das Informationsmanagement zwischen den Projektteams.

Darüber hinaus nimmt die Software einen immer größeren Stellenwert bei der Entwicklungsleistung ein. Waren es bei Level-2-Projekten noch 60 Prozent Soft- und 40 Prozent Hardware, sind es bei Level-3-Funktionen bereits 80 Prozent Software, mit steigender Tendenz. In der Hardwareentwicklung benötigt man Zeit zur Darstellung robuster Lösungen, wodurch frühe Festlegungen hinsichtlich Architektur und Performance erforderlich sind. Allerdings dreht sich in dieser Zeit die Welt weiter, und oftmals erkennt man erst im Laufe des Projekts, dass die Hardware nicht mehr den aktuellen Anforderungen gerecht wird. Demgegenüber verläuft die Softwareentwicklung sehr viel dynamischer, Änderungen – auch substanzieller Art – sind an der Tagesordnung und werden kurzfristig durchgeführt. In der Systementwicklung hochautomatisierter Fahrfunktionen stoßen damit durch den hohen Innovationsgrad und die erwähnte enge Kopplung zwischen Hard- und Software zwei Denkkulturen unter hohem Projektdruck aufeinander, die jede für sich ihre Berechtigung hat.

Als Projektpartner merkt man in der Regel sehr schnell, wenn es im Team nicht optimal läuft.

 

Und die Auswirkungen auf die Entwicklungsprojekte?

Gröschel: Als Projektpartner merkt man in der Regel sehr schnell, wenn es im Team nicht optimal läuft. Das äußert sich unter anderem durch zeitlichen Verzug im Projektverlauf und beim Meilensteinreporting sowie durch zu spät erkannte Funktionsdefizite, die aufwendige Hardwareänderungen erforderlich machen.

Kellermann: Beim Projektmanagement erleben wir einen sprunghaft ansteigenden Steuerungs- und Transparenzbedarf, um die vielen Teammitglieder zu koordinieren und auf dem Stand der neuesten Informationen zu halten. Ansonsten droht das Projekt aus dem sprichwörtlichen Ruder zu laufen.
Welche Gegenmaßnahmen ergreifen Sie?

Gröschel: Im aktuellen Projekt haben wir gemerkt, dass die auftretenden Probleme nicht durch eine reine Kapazitätserhöhung auf der Engineeringseite gelöst werden konnten. Durch einen intensiven Kundenkontakt wurde in der Diskussion immer deutlicher, dass parallel zur Technik auch das Zusammenarbeitsmodell der Projektpartner angepasst werden muss. Gemeinsam mit consulting4drive haben wir daraufhin zunächst eine weit über den üblichen Umfang hinausgehende Analyse der Gesamtsituation durchgeführt und die zu Beginn beschriebenen Herausforderungen identifiziert.

Kellermann: Um eine nachhaltige Verbesserung im Projekt zu erziehlen, haben wir in diesem Zusammenhang einen neuen Lösungsbaukasten erarbeitet. Er teilt sich auf in Management-Consulting, technische Beratung, operatives Engineering und ein erweitertes Projektmanagement in den Schnittstellen der Projektpartner. Beim Management-Consulting geht es darum, die Projektpartner schon im Vorfeld auf die Komplexität des Projekts vorzubereiten und ihnen deutlich zu machen, dass unterschiedliche Sichtweisen und Herangehensweisen eine gewollte Bereicherung und nicht kontraproduktiv für das Projekt sind. Auch führen Versuche, die Anforderungen bereits zu Projektgeginn zu fixieren nicht zum gewünschten Erfolg.

Bei der technischen Beratung bringen wir die IAV-Kompetenz beispielsweise bei der Frage ein, welche System- oder Technologiearchitektur für die vorliegende Aufgabenstellung am besten geeignet ist. Das operative Engineering umfasst ein systematisches Anforderungsmanagement, das Testing und die Absicherung der im Projekt entwickelten Hard- und Softwaresysteme mit IAV-eigenen Simulationsumgebungen und Prüfständen. Ein wichtiger Eckpfeiler unseres Projektmanagements in der Schnittstelle zu den Zulieferern ist die sogenannte Joint-Operations-Plattform. Mithilfe des Toolings können die Projektpartner beispielsweise sämtliche Informationen zentral ablegen und austauschen, miteinander kommunizieren oder Termine und Status des Gesamt- und der Teilprojekte einsehen. Das sorgt für Transparenz und damit Klarheit über den Projektverlauf. Darüber hinaus wird ein ständiges Monitoring der Meilensteinziele und eine straffe Steuerung des Projekts ermöglicht.

Gröschel: Um intern im Tagesgeschäft eine übergreifende Koordination der aus dem Lösungsbaukasten abgeleiteten Projekte gewährleisten zu können, wurde eine Programmstruktur als Klammer über die breit gefächerten Aktivitäten entwickelt. In der Programmstruktur werden die verschiedenen Fragestellungen des Gesamtvorhabens in einzelne Projekte mit eigener Verantwortung aufgeteilt. Das Programmmanagement verantwortet als übergeordnete Instanz nur das Zusammenspiel der Projekte, aber nicht deren Einzelerfolg. Die aus dieser Struktur resultierende verteilte Verantwortung spiegelt die Charakteristik der zu entwickelnde Systeme sehr gut wieder und ist somit ein entscheidender Erfolgsfaktor. Wesentlich war hierbei gerade im internationalen Kontext das Verstehen und Reagieren auf die kulturellen Besonderheiten der Projektpartner wie beispielsweise dem Aufbau einer starken Vertrauensbeziehung in Asien. Darüber hinaus ermöglichte der Aufbau einer intensiven Kundenbeziehung auf Managementebene im Rahmen des Consultings durch die consulting4drive auch unserem Projektteam bei IAV seitens des Engineerings, eine neue Stufe in der Projektbearbeitung mit dem Kunden zu erreichen.

Die Probleme sind jedoch grundsätzlicher Natur und ergeben sich aus der Transformation der Automobilwelt hin zur Digitalisierung

 

Besprechung mit Flipchart
Besprechung

Fokussiert sich das Problem auf Projekte des automatisierten Fahrens?

Kellermann: Wir glauben, dass dies nicht der Fall ist. Die wesentliche Charakteristik der angesprochenen Projekte besteht aus einem hohen Technologie- und Innovationsgrad, daher sind die Herausforderungen im Umfeld des hochautomatisierten Fahrens lediglich zuerst zutage getreten. Die Probleme sind jedoch grundsätzlicher Natur und ergeben sich aus der Transformation der Automobilwelt hin zur Digitalisierung. Für mich ist das auch nur die Vorstufe zur endgültigen Komplexität, die sich aus den neuen Mobilitätskonzepten der „Smart Mobility“ ergeben. Dort müssen dann Digitalbereich, Automobilbereich und Infrastrukturanbieter mit ihren stark unterschiedlichen Entwicklungs- und Innovationsgeschwindigkeiten zusammengebracht – synchronisiert – werden.

Gröschel: Überall dort, wo unterschieldiche Technologiebereiche und verschiedene internationale Standorte zusammenarbeiten, werden die beschriebenen neuen Ansätze nötig sein, um strukturiert Lösungen entwickeln zu können. Wir haben hierbei in Kooperation mit consulting4drive ein Vorgehensmodell für vernetztes Arbeiten, Informationstransfer unter den Entwicklerteams sowie neue Formen der Zusammenarbeit auf Basis eines Verständnis der Verschiedenartigkeit der beteiligten Partner entwickelt und bieten damit eine wesentliche Schlüsselkomponente erfolgreicher Mobilitätsprojekte an.

Kellermann: Noch ein Gedanke zum Schluss: In der Welt des digitalen IT-Bereichs gibt es einen Wettbewerbsvorteil, der uns in der Automobilbranche aktuell sehr intensiv beschäftigt: Hohe Lerngeschwindigkeit (Neudeutsch: „Speed of learning“). Wir glauben, dass dieser Faktor auch für die Entwicklung von automatisierten Fahrsystemen wesentlichen Einfluss auf Erfolg am Markt und damit Profitabilität haben wird.

Meine Herren, vielen Dank für das Gespräch.